Die Kapitulation Przemysls

Erinnerungen eines Landsturmoffiziers.
Von Dr. Bruno Prochaska, Tulln bei Wien
Auszug aus "In Feindeshand"
 
Unser Regiment, ein Landsturmregiment mit polnischer Mannschaft und größtenteils czechischen, sowie einigen deutschen Landsturmoffizieren, traf Mitte August 1914 in Przemysl ein. Wir Landsturmoffiziere, von denen mancher mit Strohhut und einer Feldbinde eingerückt war; die kaum für den Umfang des Bauches ausreichte, hatten die Aufgabe, in der Mannschaft schneidigen Angriffsgeist zu wecken. Eine wahre Sisyphusaufgabe! Denn die polnischen Bauern, fast durchwegs Männer über vierzig Jahre, die Weib und Kind daheim hatten und um das Schicksal ihrer Landwirtschaft bangten, hatten durchaus kein Verständnis für den reglementmäßigen Elan. Nur schwer setzten sich die alten Beine der „Väter", wie wir sie nannten, in den ungewohnten Laufschritt. Ihre abgearbeiteten Lungen versagten den Dienst und ihr unkriegerischer Geist stand der ganzen Situation hilflos gegenüber. Aber sie waren treu and gehorsam, sie verstanden bewunderungswürdig zu leiden und mit jener uns kaum begreiflichen Ruhe zu sterben, die dem Bauer der weiten slawischen Ebenen eignet.
     Anfangs sah es in Przemysl weniger nach Krieg als nach großen Manövern aus. Das Armeeoberkommando befand sich in der Festung. Mit ihm eine zahllose Suite von in- und ausländischen eleganten Kibitzen. Man las mit Interesse von Ereignissen in Polen und in Belgien und war überzeugt, daß der Krieg höchstens drei Monate dauern könne. Wir an der Peripherie sahen das bunte Treiben selten. Wir schleppten Baumstämme, Bretter, Stroh, Dachpappe und allerlei Material zur Ausgestaltung der Unterstände und verwandelten uns immer mehr aus Zivilisten in Soldaten . ..
      Eines Tages war das Oberkommando nach Westen abgereist. Ein eiliger Befehl beorderte uns an die Südostfront der Befestigungslinie. Dort hörten wir, zuerst verstohlen, dann ganz offen das Wort Rückzug. Bald sahen wir auch, was ein Rückzug war. Es war Befehl gegeben worden, alle Straßen für vom Osten kommende Truppenkolonnen freizuhalten. Im Morgengrauen eines naßkalten, nebligen Tages standen wir beiderseits der breiten
Dorfstraße und sahen einen trüben Zug von Bettlern durch den Kot der Straße schleichen. Nein, nicht wie Bettler, wie Tote sahen sie aus, die diesen grauenvollen Zug bildeten. Die Soldaten waren kotbedeckt, die Farben der Uniformen kaum zu erkennen. Viele ohne Kappe, ohne Waffen, schmutzige blutbefleckte Binden am Kopf und Arm. Die Gesichter bleich, hohlwangig, von wilden Bartstoppeln bedeckt. Es bestanden noch irgendwelche Formationen, doch manche Gruppe war so uns wahrscheinlich klein. Düster blickende Reiter zogen im Schritt die Kolonne entlang. Wir kannten sie nicht und wagten kein Wort der Begrüßung, unsere Fragen begegneten nur einer unsäglich müden Handbewegung, die uns nichts anderes sagen konnte als: Alles verloren! Die wenigen aktiven Offiziere unseres Regiments forschten gespannt nach bekannten Kameraden. Unser Major war zeitlebens bei den Kaiserjägern in Tirol gewesen. Er konnte es nicht erwarten, seine Tiroler wiederzusehen. Und endlich kamen sie. Dem Major traten die Augen hervor, der Mund öffnete sich, die Unterlippe bebte heftig. Er erkannte einen ehemaligen Regimentskameraden. Er stürzte auf ihn zu, packte ihn bei der Hand. Einen Augenblick hielt der Reiter an. „Grüß Dich Gott, alter Freund, wo ist der .. und der .. und der ... ?" „Tot, tot.. .., im Sumpf erstickt.. Dieser kleine Zug ist alles, was vom Regiment noch übrig ist" .. Er ritt weiter mit müdem Gruß. Der Major wandte sich ab. Doch er konnte es nicht hindern, daß wir die Tränen sahen, die ihm über die Wange flössen. Er fragte nichts mehr.Dann zogen sie vorüber, Tage und Nächte lang, schmutzstarrende Kanonen, lahme Pferde, leere Küchen, fluchende Proviants Offiziere, apathische Kutscher, Peitschengeknall und stöhnendes Wagensgerassel. Alles vorüber! Und dann wurde es still.
     Wir hatten zum erstenmal mit eigenen Augen gesehen, was Krieg bedeutet. In die täglichen Festungskommandobefehle kam nun ein schärferer Ton. Die Arbeiter wurden zu größter Eile angetrieben und eine Reihe ernster Maßnahmen getroffen ...
     Die Russen standen damals bei Grodek, wo ausgedehnte Sümpfe und Seen angeblich ein fast unüberwindliches Hindernis bildeten ..           Ein Festungskommandobefehl kündigte uns an, daß die Festung aller Voraussicht nach vom Gegner eingeschlossen werden würde und daß sie unbedingt gehalten werden müsse .. .
     Der unsichtbare Ring in den Wäldern schloß sich immer fester und fester. Seltsam war der Gegensatz zwischen der fieberhaften Geschäftigkeit in der Festung und dem unheimlichen Schweigen in den Wäldern, die wie ausgestorben schienen, und doch, wie wir wußten, von vielen Tausenden feindlicher Soldaten erfüllt waren ...
      Der russische Angriff hatte begonnen.
      Nun folgten fünf Tage der höchsten Spannung. Fünf Tage Bombardement, abwechselnd mit Sturmangriffen, die jedesmal näher an die Werke herankamen. Es war keine leichte Aufgabe, in dieser Hölle auszuharren. Die russische Artillerie schoß äußerst präszis. Daß die alten Forts nicht völlig dem Erdboden gleichgemacht wurden, lag nur daran, daß die russische Munition zu rasch explodierte. So kam es, daß einzelne Werke zahllose Treffer hatten, aber doch nur teilweise zerstört wurden. Einzelne Teile der Besatzung konnten sich immer noch halten. Drahthindernisse, Zwischenstellungen, Infanteriegräben waren freilich zum großen Teil völlig vernichtet. Die Reserven lagen auf freiem Feld knapp hinter der Linie der Werke und wurden jeweils beim Sturm nach vorn gezogen, wobei sie den furchtbaren Schrapnellhagel passieren mußten, mit dem die Russen bei Beginn des Sturmes den Raum hinter den Werken überschütteten. Die telephonische Verbindung, die in der Nacht mühsam hergestellt wurde, wurde stets schon in den ersten Morgenstunden durch das feindliche Artilleriefeuer unterbrochen und die Verbindung durch Boten gestaltete sich in dem ununterbrochenen Feuer überaus schwierig. So wurde die Lage von Tag zu Tag bedrohlicher. Jeder neuerliche russische Sturmangriff kam den Werken näher. Die Verteidigungsstellungen wurden mit fortschreitender Zerstörung immer unhaltbarer. Noch hatte kein Mann seinen Posten verlassen, aber man mußte mit einem baldigen Erlahmen des Widerstandes rechnen. Vier Tage und vier Nächte ununterbrochenen Kampfes mußten die stärksten Nerven erschüttern.
      Am neunten Oktober, im frühesten Morgengrauen, waren bereits wieder alle Verbindungen zerschossen. In den spärlichen Feuerpausen eilten Ordonanzen von Werk zu Werk. Später blieben auch sie aus. Das Abschnittskommando hatte keine Verbindung mehr mit den Werken der Kampffront. Das Artilleriefeuer schwoll orkanartig an, sicheres Vorzeichen eines entscheidenden Angriffes. Die Reserve wird vorgeschickt. Während sie abmarschiert, trifft die Nachricht vom Festungskommando ein, daß unsere Truppen im Anmarsch sind und nur mehr wenige Kilometer von der Stadt entfernt sind. Es gilt, noch diese letzten Anstrengungen der Russen mit allen Kräften abzuwehren. Dann ist alles gerettet. Ist dies wahr oder nur ein verzweifeltes Mittel, um den letzten Widerstand anzufachen? Wer weiß es? Die Reserven eilen vor und nehmen die hoffnungsvolle Botschaft den bedrohten Kameraden mit.
     Ein furchtbarer Sturm ist abgeschlagen. Doch sehr bald wird ein neuer Angriff folgen. Wird er noch abgewehrt werden können? Schon sieht man Flüchtlinge die Gürtelstraße entlang laufen. Ein Zugsführer hat sich in einem Anfall von Wahnsinn kopfüber vom Wall herab in die gelben Wogen der Angreifer gestürzt. Es kann nicht mehr lange dauern. Das Bombardement setzt wieder mit äußerster Gewalt ein. Es ist kaum möglich, sich in dem rasenden Lärm zu verständigen. Plötzlich sieht man kleine Gruppen in panischem Schrecken fliehen. Irgendwoher flackert die Nachricht auf: Alles verloren! Die Russen sind in die Gürtellinie eingedrungen. Während sich die zweite Linie zum letzten Kampfe rüstet, erscheinen schon die gelben Mäntel der Russen auf der Straße. Es sieht aus, als würden sie mit unseren Soldaten fliehen. Ein Augenblick völliger Verwirrung. Da schwingt sich unser Oberst auf seinen Grauschimmel und sprengt in rasendem Galopp die Gürtelstraße vor. Bald kehrt er zurück und bringt die Lösung des Rätsels. Die Russen sind in der Tat an einer Stelle eingedrungen und in den Rücken eines Werkes gelangt. Doch diese Abteilung hatte beim Durchschreiten der Feuerzone so furchtbar gelitten, alle Kommandanten verloren und eine so grauenvolle Erschütterung der Nerven mitgemacht, daß sie, oben angelangt, völlig ratlos dastand. Auch bei den Verteidigern verlor man einen Augenblick den Kopf. Doch es fand sich ein energischer Offizier, der die Situation richtig erfaßte, die Front wieder herstellte und die Russen gefangen nahm.
     Dieser Sturm war der letzte. Es trat plötzlich Stille ein. Der Kampflärm verstummte. Einige Stunden später meldete man uns, daß die erste Kavalleriepatrouille unserer Armee vom Westen her in die Festung eingeritten sei.. .
     Dieser Moment höchster Spannung und Erlösung war wohl die vergangenen Mühen und Gefahren wert. Ein Augenblick so voll starken, dramatischen Geschehens war uns nicht mehr beschieden. Dann machte sich die ungeheure Nervenüberspannung geltend. Wir hatten nur die Sehnsucht, in einem trockenen Raum zu schlafen.
     Dann sahen wir die grauenvollen Leichenfelder vor der Festung, die vom Bombardement zerstörten Werke, die von Schrapnells durchpflügten Waldstreifen, in denen reihenweise unsere Toten in ihren graublauen Mänteln still lagen und zu schlafen schienen.
     Wir waren befreit.. Doch die Befreiung war nicht vollständig. Die Russen hatten sich nur einige Kilometer zurückgezogen und standen südlich der Festung noch immer so nahe, daß sie die Bahnlinie unter Artilleriefeuer halten konnten. Und diese Bahnlinie war damals die einzige, die für den Nachschub in Betracht kam. Man versuchte die Russen zurückzudrängen, doch vergebens. Jeder Tag begann mit der gleichen Frage nach der Magierahöhe. Sie war und blieb in den Händen der Russen trotz allen Anstrengungen unserer Feldarmee. Und nach wie vor zerstören sie die mühsamen Arbeiten an der Brücke von Nizankowice. . . .
     Täglich hörten wir den Gefechtslärm von der Magierahöhe und verfolgten mit ängstlicher Spannung die Berichte aus der Stadt über die Arbeiten an der Bahnlinie. Man sprach von großen Lücken in den FestungsVorräten, von ungünstiger Lage an der russischen Front im allgemeinen, kurz wir hatten allen Grund besorgt zu sein. Wir hatten nur den einen Wunsch, nicht wieder eingeschlossen zu werden und wenigstens ein Stützpunkt in der Front bleiben zu können. In dieser Zeit standen wir oft an der nach Westen führenden Straße neben einer kleinen, mit Maschinengewehren ausgerüsteten Kapelle, von wo aus die Straße weithin zu übersehen war. Hier waren unsere Truppenkolonnen freudigst begrüßt eingezogen. Nun war die Straße leer, nur mit dem Abfall an gebrochenen Wagenrädern, toten Pferden und leeren Konservenbüchsen bedeckt, den durchziehende Truppen immer zurücklassen. Als der Oktober zu Ende ging, begannen kleine Wagenkolonnen gegen Westen zu ziehen. Auf unsere Frage sagte man uns beruhigend, daß es sich um leere Wagen handle, die nun wieder zurückdirigiert würden. Dann aber hörten wir des Nachts ununterbrochenes Wagengerassel und auch bei Tag zogen lange Trainkolonnen vorüber. Die Kommandanten konnten uns nichts sagen und zuckten die Achseln. Nun kamen auch endlose Truppenkolonnen aller Waffengattungen. Es wurde allmählich offenbar, daß es sich um einen großen Rückzug handle. Eines Abends kam ein General mit einer kleinen Abteilung und blieb über Nacht bei uns. Er befehligte die letzten von der Magiera abziehenden Truppen. Nur noch einige Markierer waren zurückgeblieben, um die Russen noch ein paar Stunden zu täuschen. Sie kamen bald nach und zogen eilig nach Westen ab. Dann noch einige Versprengte, Nachzügler, Marode, am Stock humpelnd, alle hastig nach der gleichen Richtung strebend, der Armee nach. Nur wir mußten bleiben.
     Dann wurde die Straße wieder leer und tot. Am nächsten Tage, den 6. November, war der Ring der russischen Armee wieder geschlossen. Wir wußten nun, daß es für uns nur eine Hoffnung gab, den baldigen Frieden. An eine Wiederkehr der Armee war im Winter nicht zu denken, zumal ungewöhnlich starke Kälte eintrat und reichlicher Schnee fiel, der die Karpathen unwegsam machen mußte. Hingegen war es sehr fraglich, ob wir eine längere Belagerung aushalten konnten. Wohl erwogen wir unablässig alle möglichen günstigen Eventualitäten, aber innerlich waren die meisten von uns überzeugt, daß wir auf einem verlorenen Posten standen.
     Nun begann das langsame Sterben der Festung, das fast fünf Monate dauerte. Jeder Tag eine neue Bürde seelischer Qual, voll Sehnsucht und ohnmächtiger Verzweiflung. Ungewöhnlich früh trat strenge Kälte und Schneefall ein. Die Versorgung der Mannschaft mit Wintersorten war äußerst mangelhaft und konnte nicht mehr ergänzt werden. Die Truppen mußten größtenteils die lange Wintercampagne in der Sommerausrüstung bestreiten. Sehr bald zeigte sich auch, daß es um die Verpflegung der Festung schlecht bestellt sei. Schon im November begannen die Pferdeschlachtungen im großen Maßstabe.
     Die Ernährungsverhältnisse verschlechterten sich rapid. Bald wurden alle Pferde bis auf die der Kommandanten zur Schlachtung eingezogen. Viel war hiemit nicht gewonnen. Denn die armen Tiere hatten schon längst so karge Rationen Stroh und Häcksel, vermengt mit Sägespänen, erhalten, daß sie nicht viel mehr als ihre Haut und die Knochen zu opfern hatten. Vor Hunger hatten sie in den Ställen die Stützbalken so durchgenagt, daß manche Dächer einstürzten. Nun wurden auch den Offizieren die Fleischportionen wesentlich verkleinert. Es gab fast gar keine Kartoffel und Gemüse mehr, Salz, Zucker, Kaffee, Tee, Zwieback, Brot, Zündhölzchen, Kerzen, Rauchmaterial begann selten und kostbar zu werden. Nur etwas Alkohol gab es noch, und Kraut schien noch in größeren Mengen vorhanden zu sein. Eine Möglichkeit, auf Schleichwegen etwas zu bekommen gab es für uns nicht. Wir lebten von dem zugemessenen Quantum, wobei immer noch ein wesentlicher Unterschied zwischen der Verpflegung der Mannschaft und der Offiziere bestehen blieb.
     Es ging uns nicht gut und Schlimmeres war unvermeidlich. Aber es gab Menschen, die es noch viel schlechter hatten . .
     Obwohl die inneren Kräfte der Festung verfielen, entfaltete sie immer noch rege Aktivität. Das sogenannte System der aktiven Verteidigung fügte uns aber selbst unvergleichlich mehr Schaden zu als den Russen.
     Die Ausfälle gingen natürlich meist unter höchst ungünstigen Bedingungen vor sich. Insbesondere fehlte fast immer jegliche Artillerieunterstützung. Man konnte in dem hartgefrorenen Boden nirgends feste Stellungen beziehen. Das Programm war immer das gleiche. Wir rückten im Morgengrauen so nahe als möglich an den Gegner heran und hatten höchstens die Genugtuung, ein paar Feldwachen zu verjagen oder ein kleines exponiertes Detachement gefangen zu nehmen. Dann standen wir einige Stunden auf freiem Feld oder am Waldesrand, wie es sich eben traf. Inzwischen verzehrten die Russen ungestört ihr Mittagessen, telefonierten Artillerie herbei, die ungesehen ein bis zwei Kilometer vor uns auffuhr. Ihre Maschinengewehre schlichen sich seitwärts im Walde heran. Und dann ging es los. Wir waren sofort unter wohlgezieltem Feuer von allen Seiten. Die Artillerie überschüttete uns mit Schrapnells und in unseren Flanken gelangten russische Infanterieabteilungen, durch den dichten Wald geschützt, ohne Mühe in unseren Rücken, so daß es oft nicht mehr möglich war, einen geordneten Rückzug anzutreten, sondern alles sich in wilde Flucht auflöste. Die Strapazen dieser Unternehmungen waren enorm, die Verluste oft sehr bedeutend und das Resultat: völlige Erschöpfung der Truppen und beschleunigte Demoralisation.*
     Bei einem dieser Ausfälle wurde unser Oberst, der sich wie immer zu weit vor gewagt hatte, durch einen Schrapnellschuß schwer verwundet und wurde in die Stadt in ein Spital gebracht. Dies machte unsere an sich trübe Stimmung nicht besser. Der Oberst war ein prächtiger Mensch, zu dem wir unbegrenztes Vertrauen hatten. Er hatte seinen Mut schon im bosnischen Feldzug erprobt und hatte später nach dem Zusammenbruch als General eines Nachfolgestaates Gelegenheit, hervorragendes Führertalent zu beweisen.  Alles schien uns damals grau in grau. Aber einen Hoffnungsschimmer hatten wir doch. Wenn wir oft im ersten Morgengrauen oder in tiefer Nacht die verschneiten Patrouillenwege entlang am Rande schweigender Wälder dahinzogen, hörten wir häufig fernen Kanonendonner. Er kam vom Westen her, bald stärker, bald leiser, und weckte in uns die fast begrabene Hoffnung. Es bildete sich in den Schützengraben eine Legende von der Offensive unserer Armee, die bereits begonnen habe und mit der Befreiung der Festung am Weihnachtstage enden sollte. Wir wußten ja so wenig von der Umwelt und es schien uns, als könnte es nichts Wichtigeres für die Armee geben als die Befreiung Przemysls. So wurde es uns zur Gewohnheit, täglich, stündlich, ununterbrochen nach dem fernen Kanonendonner zu lauschen. Es gab Stellen, wo man ihn ganz besonders gut vernahm, und dort drängten wir uns dicht zusammen wie Fliegen auf dem Zucker. Der Kanonendonner war unsere einzige Verbindung mit der freien Welt und er war der Hauptinhalt unserer im übrigen sehr kargen Gespräche. Wir frohlockten, wenn er stärker zu klingen schien, und waren bestürzt, wenn er sich entfernte oder schwieg. Wir versuchten auszurechnen, wann die Armee bei der Festung eintreffen müsse. In den offiziellen Nachrichten stand allerdings nichts von ihrer Vorrückung. Aber vielleicht mußte diese Bewegung aus strategischen Gründen geheimgehalten werden? Doch dann kamen wieder Tage, da nichts zu hören war, da nur die ewig gleiche, unheimliche weiße Stille über der Festung lag. Dann schlug unsere frohe Erwartung in tiefe Niedergeschlagenheit um und allmählich wurde es uns zur Gewißheit, daß wir Weihnachten noch in der eingeschlossenen Festung feiern würden.
     Vielleicht waren unsere Weihnachten die traurigsten der ganzen damaligen Front. Kein Lebenszeichen drang aus der Heimat herüber. Die vielen rührenden Beweise von Liebe und Sehnsucht, die den Kameraden an der Front zuteil wurden, uns erreichten sie nicht. Uns winkte kein Urlaub, keine Ablösung. Was wir vor uns sahen, war noch eine Zeit fruchtloser Anstrengungen und Kämpfe, als Ende Gefangenschaft oder Tod. Gleichwohl feierten wir die heilige Nacht in gewohnter Weise mit Christbaum und Geschenken. An diesem Abend wurden noch sorgsam aufgesparte Kostbarkeiten verteilt. Die Patrouillen hatten ein Reh mitgebracht, es gab noch Wein, die letzten Zigaretten. Unsere Kunstkräfte sorgten für ein Vergnügungsprogramm, das uns bis spät nachts beisammen hielt. Dann gingen wir durch finstere Wege kreuz und quer zu einer kleinen Kapelle, wo beim Schein spärlicher Kerzen die Christmette gelesen wurde. Die Mannschaft kniete betend im tiefen Schnee und aus der Menge stiegen unaufhörlich schwere, gepreßte Seufzer empor. Als wir dann in unsere Gräben heimwärts gingen, blieben wir stehen und lauschten nach unserer Gewohnheit mit angehaltenem Atem. Und wie ein Weihnachtsgruß für uns war mit einemmale wieder das leise Murren der Kanonen zu hören und stärker als je. Wir standen lange und tief ergriffen da. Wir hofften wieder und die mühsam zurückgehaltene Sehnsucht brach nun umso stärker hervor. Jeder war so von der Last seiner Gedanken überwältigt, daß wir, ohne ein Wort zu sprechen, schnell auseinander gingen.
     Dann folgte eine Zeit steigender Hoffnung. In der Neujahrsnacht war der Kanonendonner so stark und scheinbar nahe, daß wir uns nicht satt hören konnten. Aber sehr bald verstummte er wieder und der leise Hoffnungsschimmer, der uns so teuer gewesen war, erlosch.
     Die innere Lage verschlimmerte sich nun rasch.** Nun aßen auch die Offiziere gerne Pferdefleisch. Doch es war keineswegs immer zu haben. Die Mannschaft verfiel zusehends. Die Soldaten zeigten uns ihre jämmerlichen Portionen und wir konnten ihnen doch nicht helfen. Wenn einer das Glück hatte, einen Knochen zu bekommen, so warf er in erst fort, nachdem er die letzte Faser sorgfältig abgenagt hatte. Und dieser schmutzige, in den Schnee getretene Knochen wurde noch zehnmal von anderen aufgehoben, nach allen Seiten gewendet, benagt und ausgesogen, ehe auch der letzte bei ihm die Hoffnung aufgab, etwas für seinen Hunger zu finden. Dabei wurde die Arbeitslast der Soldaten immer größer. Außer den Patrouillegängen und Ausfallsgefechten mußten sie noch von weiterher Holz schleppen und zerkleinern. Denn es fehlte an Brennmaterial und in den Unterkünften war es trotz allen Bemühungen eiskalt. Das Licht ging zu Ende. Die langen Winterabende mußte man im Dunkel verbringen. Nur selten bekamen wir Kerzen, die aus Pferdefett erzeugt wurden und widerlich rochen. Krankheiten nahmen überhand. Der Schlaf wurde durch das fast ununterbrochene Feuer nahe stehender Batterien gestört. Die Abspannung erreichte einen solchen Grad, daß der Dienst nicht mehr voll bestritten werden konnte. Viele versanken in völlige Apathie. Es war strengstens verboten, sich bei Märschen auch nur auf einen Augenblick niederzusetzen. Denn die halbverhungerten Leute erfroren unglaublich schnell. Dennoch kam es vor, daß ein Mann vom Holzschleppen zurückkehrte, — mangels Zugtieren wurde das Holz über den Schnee geschleift — sich kaum hundert Schritte vor dem Unterstand niedersetzte und von den einige Minuten später ausgesendeten Kameraden bereits tot vorgefunden wurde. Trotz all diesen Entbehrungen blieb die Mannschaft treu. Bis zum Schlusse fehlte uns nicht ein Mann, während aus anderen Bezirken ein bedrohliches Zunehmen der Desertionen gemeldet wurde.
     Mitte Februar wurden die schwindenden Kräfte noch einmal zu einem großen Ausfall der ganzen Besatzung zusammengerafft. Er dauerte mehrere Tage und es hieß, daß von der Armee gleichzeitig ein Vorstoß unternommen werde, der uns eine Gasse bahnen sollte. Der Ausfall mißlang natürlich. Die Truppen kehrten in äußerster Erschöpfung zurück und es wurde nun auch an dem entlegensten Schreibtisch klar, daß die Besatzung eine aktive Verteidigung nicht mehr fortführen könne. Es unterblieben nun die Ausfälle. Der Außendienst wurde reduziert und dies um so mehr, als nun die Russen allmählich energischer hervortraten und unsere Vorfeldstellungen zurückdrängten. Sie nahmen nun öfters unsere Patrouillen gefangen, ihre Aeroplane warfen täglich Bomben über der Stadt ab und weittragende Geschütze großen Kalibers, deren Stellung nicht ermittelt werden konnte, beschossen die Vorstädte.
     Man fühlte die Nähe der Entscheidung. Im Falle eines russischen Angriffes war auf einen längeren erfolgreichen Widerstand nicht zu hoffen. Wenn es aber bei der bisherigen Umklammerung blieb, war die Kapitulation unausbleiblich. So schien es uns. Bald aber erfuhren wir, daß es noch einen dritten Weg gebe. Anfangs ging ganz heimlich ein Gerücht um, daß das Festungskommando eine letzte große Unternehmung plane. Die Festung sollte von uns selbst zerstört und dem Feinde preisgegeben werden, während die gesamte Besatzung auf eigene Faust versuchen sollte, sich bis zur Armee durchzuschlagen. Dies schien uns reiner Wahnsinn und wir konnten nicht daran glauben. Es gab fast keine Pferde mehr, um die Artillerie zu befördern. Die Mannschaft, welche unbelastet kaum imstande war, wenige Kilometer zurückzulegen, hätte mit erhöhter Kriegspackung Marschleistungen vollführen müssen, denen kaum frische, ausgeruhte Truppen gewachsen gewesen wären, von der Kampfleistung ganz abgesehen. Wir hielten also diese Gerüchte für die Erfindung einiger Schwarzseher. Aber allmählich mehrten sich die Anzeichen, welche darauf hindeuteten, daß diese Gerüchte nicht ganz ohne Grund seien. Wir erhielten Befehl, ganz kleine Schlitten zu bauen, die Maschinengewehre für Schlittentransport einzurichten, es wurden Skipatrouillen aufgestellt und sogar einzelne Pferde zugewiesen. Diese Maßregeln ließen keine andere Deutung zu, als daß der von uns als Wahnsinn angesehene Durchbruchsversuch dennoch stattfinden solle. Von nun an war unser tägliches Gespräch, ähnlich wie früher der ferne Kanonendonner, der bevorstehende Durchbruchsversuch. Es gab wohl keinen, der unsere Truppen je in der Nähe gesehen hatte und eine solche Unternehmung für durchführbar hielt. Unser anfängliches Staunen verwandelte sich allmählich in Zorn und Entrüstung. Wenn wir abends in unseren kalten, finsteren Zellen lagen, sprachen wir immer wieder von nichts anderem und kamen immer wieder zu dem Ergebnis, daß der Plan absolut undurchführbar sei. Der größte Teil der Besatzung befand sich wohl in nicht wesentlich besserer Verfassung als wir. Auch die einzige stärkere Feldformation, die Honveddivision in der Stadt, mußte bereits an Kampfwert erheblich eingebüßt haben. Das Festungskommando veranstaltete eine Umfrage bei den einzelnen Truppenteilen über die Leistungsfähigkeit der Mannschaft, natürlich mit durchaus negativem Ergebnis. Es konnte wohl niemand mit gutem Gewissen behaupten, daß die Mannschaft den Anforderungen eines Durchbruches gewachsen sei.
     Inzwischen machten sich schon die ersten Anzeichen des nahenden Frühlings bemerkbar. Nebel und Regenschauer wechselten mit Sonnenschein. Graue, feuchte Wolken zogen, vorn frischen Winde getrieben, über den blaßblauen Himmel. Der Geruch der feuchten Erde zog über die Felder. Es war jene herbe Vorfrühlingszeit, da sich sonst ein unbestimmtes Gefühl beglückender Daseinsfreude zu regen beginnt und der Strom des allgemeinen Erwachens die Seele mitreißt. Auch in unserer Brust wollte sich ein schüchternes Gefühl regen. Doch es war nur eine schmerzlich süße Erinnerung, die bald wieder erlosch.
     Diese letzten Tage waren trotz unserer verhältnismäßigen Untätigkeit von einer seltsamen Spannung erfüllt. Jeder hatte schon längst seine Vorbereitungen zum Abmarsch getroffen. Die Schlitten waren fertig und die menschlichen Zugtiere mit ihren bleichen knochigen Gesichtern standen bereit. Es war bereits kein Geheimnis mehr, daß ein Durchbruchsversuch stattfinden werde. Nur die Richtung war uns noch nicht bekannt.
     So verging ein Tag nach dem andern. Es wechselte heller Sonnenschein mit Regen, Schnee und Sturm. In den Lüften summten die Aeroplane und zeitweise stiegen in der Stadt große schwarze Rauchsäulen auf. Von unseren schwachen Vorpostenstellungen knatterte ab und zu leichtes Gewehrfeuer herüber, vermischt mit den dumpfen Schlägen der Kanonen.
      Wir warteten und warteten und sehnten die Entscheidung herbei, wie immer sie auch falle. Dieser Zustand war auf die Dauer unerträglich. Endlich am 20. März kam der Befehl zum Abmarsch. Aus den Gräben, den Unterständen, den Hütten und Baracken strömte, sich mühsam sammelnd, die Mannschaft zusammen. Der Tag war trüb und regnerisch. Auf den Feldern lagen noch große Flecke weißgrauen Schnees. Doch die Straße war schneefrei und mit tiefem Kot bedeckt. Langsam, sehr langsam marschierten wir die Straße entlang der Stadt zu. Die Mannschaft keuchte schwer unter der Last der Munition und der übrigen Bepackung. Jeder Mann hatte einige Konserven erhalten und es war bei Strafe des Erschießens verboten, die Konserven ohne Befehl zu verzehren. Dennoch war es nicht zu verhindern, daß die verhungerten Leute sofort heimlich einen Teil ihrer Konserven öffneten und den Inhalt gierig verschlangen. Wir sahen überall die leeren Konservenbüchsen. Da es aber nicht festzustellen war, wer für dieses Verbrechen zu erschießen sei, wurde überhaupt niemand bestraft. Was hätte es auch genützt? Wir hätten unsere ganze Mannschaft erschießen müssen.Wir näherten uns der Stadt durch die breite, trostlose Straße, in der die Aeroplanbomben keine Fensterscheibe übrig gelassen hatten.
Die Läden waren geschlossen und die Häuser bis zur Stockwerkhöhe mit Kot bespritzt. Nur wenige Bewohner standen scheu abseits und betrachteten uns kummervoll. In der Abenddämmerung erreichten wir die große, verlassene Kaserne, die uns als Ausgangspunkt zugewiesen war.                                                                                                  Wir erwarteten den Obersten, der von seiner Verwundung notdürftig hergestellt war und das Kommando übernommen hatte. Endlich kam er mit raschen Schritten, wir umringten ihn im Kreise und schwiegen erwartungsvoll. Seine hohe, scharfe Stimme klang jedem vernehmlich: Der Durchbruch findet gegen Südost statt, Richtung Moszczyska. Wir haben die linke Flanke der Hauptkolonne zu decken und rücken südlich der Straße gegen Moszczyska vor. Abmarsch neun Uhr dreißig Minuten. Es wird ohne Licht und vollkommen geräuschlos marschiert. Die Gewehre werden nicht geladen. Um 12 Uhr muß der Gürtel passiert, um ein Uhr die feindliche Linie mit dem Bajonett genommen sein. Dann folgten noch kurze Angaben über die allgemeine Disposition.
     Wir trauten unseren Ohren nicht. Der Durchbruchsversuch sollte gegen Osten stattfinden? Dort, wo die Russen von Anfang an ihre stärksten Stellungen hatten, wo sie ihre beste Artillerie und die günstigsten Kommunikationen hatten? . . .
Die Idee schien uns wahnsinnig. Denn es schien uns, daß man, wenn man den Durchbruch ernstlich wollte, jede andere Stelle, nur nicht diese hätte wählen müssen.
     Immerhin, die Würfel waren gefallen. Und es war ein Gefühl der Erleichterung, zu wissen, daß in vierundzwanzig Stunden alles vorüber sein würde. Es war noch ungefähr eine halbe Stunde bis zum Abmarsch. Man mußte sich beeilen. Die Offiziere eilten zu ihren Abteilungen und bald erfüllte Stampfen, Schnauben und Scharren die finsteren Kasernenhöfe. Die Bataillone gruppierten sich, die Offiziere erläuterten in kurzen Ansprachen Ziel und Zweck der Unternehmung. Die Mannschaft nahm die Erklärungen schweigend entgegen. Auf einmal aber klangen aus dem Dunkel seltsam rauhe Töne, die sich allmählich vereinigten und verstärkten. Sie sangen schwer und langsam ein slawisches Kirchenlied . . .
     Wir marschierten pünktlich ab. In der Finsternis vollzogen sich alle Bewegungen langsam und stockend. Wir zogen am Festungskommando vorüber, wo fieberhaftes Leben herrschte und in allen Fenstern helles Licht brannte. Dann wanden wir uns mit Mühe durch die Straßen, wo Artillerie und Train-Kolonnen standen. Endlich erreichten wir die Stadtgrenze und betraten den Bereich undurchdringlicher Finsternis. In dem tiefen Kot rückten wir nur sehr langsam vor, zumal Truppenkolonnen überall entweder die Straße versperrten oder unseren Weg kreuzten. Die Führung und Verbindung gestaltete sich immer schwieriger. Die Kolonne zog sich immer mehr in die Länge. Das Tempo war überaus langsam, trotz allen Beschleunigungsversuchen. Es war schon jetzt klar, daß wir um Mitternacht den Gürtel nicht erreichen konnten. Es gab kein Mittel, um die Mannschaft rascher vorwärts zu bringen. Im Gegenteil, es zeigte sich bald, daß sehr viele nicht mehr weiter konnten und einfach liegen blieben. Es wurde Munition, Waffen und selbst Konserven weggeworfen. Schließlich blieben viele gänzlich erschöpft im Kot liegen, wo sie eben standen. Die Offiziere zählten, so gut es ging, ihre Abteilungen ab. Es ergaben sich Abgänge von einem Drittel bis zu einer Hälfte des Standes. Und wir hatten noch nicht einmal den Gürtel erreicht. Wohl versuchte man die Zurückgebliebenen zu sammeln und weiterzuführen, doch ohne Erfolg. Es war schon fast ein Uhr, als wir den Gürtel erreichten. Mit großen Schwierigkeiten zwängten wir uns durch die enge Passage zwischen den Drahthindernissen. Nun lag die weite Fläche in undurchdringlichem Dunkel vor uns. Irgendwo gegenüber mußte der Feind stehen. Anfangs rückten wir in kleinen Gruppen vor, mit unsäglicher Mühe durch aufgeweichte Erdschollen und nassen Schnee stampfend. Durch leise Zurufe wurde die Verbindung, so gut es ging, aufrechterhalten und Anschluß an die Nachbartruppe gesucht. Plötzlich entstand Bewegung in der vordersten Linie. Dunkle Gestalten tauchten auf und kamen uns gerade entgegen. Doch es stellte sich heraus, daß dies eine Kompagnie eines Nachbarregiments war, welche die Orientierung vollkommen verloren hatte und nun mit uns weitermarschierte. Die Zeit verging. Es war noch immer totenstill. Nach unseren Schätzungen hätten wir schon längst die feindlichen Stellungen erreicht haben müssen. Es war aber weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Der Himmel war bedeckt und sternlos, die Nacht furchtbar finster. Plötzlich tauchte vor uns ein rötlicher Stern auf, der eine Weile unbeweglich stehen blieb und dann wieder verschwand. Dann erschien er wieder, ein Strahl schoß aus ihm hervor und im nächsten Augenblick waren wir in blendend weißes Licht  getaucht. Alles warf sich zu Boden und schmiegte sich regungslos an die Erde. Der Lichtkegel des Scheinwerfers wanderte mit ruckweisen Bewegungen über das Feld, und wo sein Lichtkegel hinfiel, verwandelte sich alles seltsam gespenstisch. Das Unsichtbare wurde sichtbar, kleine Steinchen und Grashalme warfen lange Schatten, die an den Boden geschmiegten Menschen lagen unbeweglich wie kleine Erdhäufchen, halb Licht, halb Schatten.
     Der Lichtstrahl erlosch plötzlich und gleich darauf heulte eine Lage Schrapnells über unsere Köpfe hin. Weit hinter uns im Dunkel des Festungsgürtels blitzten die Sprengpunkte auf. Es hatte nicht uns gegolten. Wir gingen nun in Schwarmlinie weiter in der Richtung, wo das glühende Auge verschwunden war. Wie lange und wie weit wir vorrückten, wußten wir nicht. In der absoluten Finsternis fehlte jede Beurteilung von Raum und Zeit. Der Zusammenhang ging immer mehr verloren. Jeder Kommandant hatte eine kleine Gruppe in seiner Nähe. Der Rest war vermutlich regellos über die ganze Ebene zerstreut. In unserer rechten Flanke, wo die Hauptkräfte vorgingen, war noch immer alles still. Es schien uns, daß man dort schon längst hätte auf den Feind stoßen müssen. Auch wir erwarteten jeden Augenblick den scharfen Knall des ersten Schusses. Aber das Schweigen schien ebenso undurchdringlich wie die Nacht.
     Plötzlich stockte unsere Vorwärtsbewegung. Wir standen an einem Hindernis. Ein mehrere Meter breiter Wassergraben, bis an den Rand gefüllt, zog sich quer über das Feld. Wir versuchten, ihn zu durchwaten. Aber die ersten Männer versanken bis an den Hals im Wasser und konnten nur mit Mühe gerettet werden. Wir versuchten den Graben zu umgehen, aber es war kein Ende zu finden. Wir suchten im Dunkel nach einem Baum, einen Zaun oder einer Hütte, um Holz für einen Notsteg zu gewinnen. Doch es war nichts zu finden. Es blieb uns also nichts übrig, als hier zu bleiben und die Morgendämmerung abzuwarten. Was dann geschehen würde, war uns bei unserer furchtbaren Abspannung vollkommen gleichgültig.
     Allmählich begannen die Umrisse der nächsten Umgebung im Halbdunkel undeutlich hervorzutreten. Der Morgen war nicht mehr fern. Fahles Dämmerlicht breitete sich aus und ein leichter Wind erhob sich. Da fiel rechts von uns im Walde der erste Schuß. Dann folgten mehrere wie einzelne Tropfen, und plötzlich brach ein hastiges Knattern los, das bald wieder verstummte. Dann blieb es wieder still. Über unsere Köpfe zog leise singend eine Gewehrkugel. Es wurde rasch heller. Noch konnte man die Ebene vor uns nicht übersehen. Wenn wir nahe an der feindlichen Infanterielinie standen, dann war unser Schicksal besiegelt. Denn ob wir nun vors oder rückwärtsgingen, jedenfalls waren wir ohne Möglichkeit einer Gegenwehr dem feindlichen Feuer durch mindestens eine Stunde preisgegeben. Schon begann vor uns ein Maschinengewehr zu hämmern, ein zweites setzte von der Flanke ein. Die Geschosse jagten flach über uns hin. Doch es war noch kein gezieltes Feuer. Die Russen streuten vorerst aufs Geratewohl ihr Vorfeld ab. Schon färbte sich der Himmel im Osten mit rötlichem Schimmer.
     Da geschah etwas, was uns damals wie ein Wunder der Vorsehung erschien. Das leise Morgenrot verschwand wieder, die fahle Blässe des ersten Morgengrauens kehrte wieder zurück und ein zarter Nebelschleier legte sich über das Feld. Die sichtbaren Gegenstände verschwanden wieder und winzig kleine, weiße Schneeflocken begannen niederzusinken und verhüllten uns wie mit einem Vorhang. Und wie früher zogen die Schrapnells über unseren Köpfen ihre heulende Bahn der Festung zu.
     In der kurzen Zeit, da der Ausblick frei war, hatten wir bemerkt, daß wir im freien Feld bedeutend weiter vorwärts gekommen waren als die Truppen in der Waldzone. Wir versuchten, Anschluß zu gewinnen, und warteten die weitere Entwicklung drüben ab. Es dauerte nicht lange, bis wieder Schüsse im Walde fielen. Und bald tobte wieder heftiger Gefechtslärm. Als der Schneefall nachließ, sahen wir vor dem Wald die Reserven auf einem Hügel stehen und eine Abteilung nach der anderen langsam gegen den Wald vorrücken, zwischen dessen Wipfeln zahllose weiße Wölkchen auftauchten und verschwanden. Das Feuer schwoll orkanartig an und bald erschienen Teile unserer Truppen wieder am Waldesrand und gingen langsam gegen ihre ursprüngliche Stellung zurück. Und schon waren wie Geier die weißroten Wölkchen über ihnen, immer zahlreicher blitzte es über ihnen auf. Da begannen sie zu laufen. Eigentlich sah es nur wie ein Versuch zu laufen aus. Schwerfällig hasteten sie über den Abhang.Vor uns in der Nähe des Gürtels stiegen ununterbrochen wie Springbrunnen die schwarzbraunen, turmhohen Erdsäulen auf, die wir vom Bombardement her als Zeichen schwerer Geschosse kannten.
     Dennoch passierten wir den Gürtel an einer weniger beachteten Stelle ziemlich ungestört. Dann mußten wir sofort die leeren Befestigungsgräben besetzen, um ein eventuelles Nachdrängen des Gegners abzuwehren. Die Gräben waren von knietiefem Kot erfüllt, so daß eine Kommunikation fast unmöglich war. Die Mannschaft lag mehr, als sie stand, bei den Schießscharten, durch die ein eisiger Wind fegte. Die Russen hätten in dieser Situation die Stellungen mühelos nehmen können. Sie waren aber vernünftig genug, keinen Mann unnütz zu opfern, da ihnen doch die Festung wie eine reife Frucht in den Schoß fallen mußte. Diesmal war keine Entsatzarmee zu fürchten.
     Bis Mittag standen wir dort und hatten einige Verluste durch das Granatenfeuer. Endlich kam der Befehl zum Rückmarsch. Wieder dieselbe trostlose Straße zurück, wieder Kot und Pfützen und die entsetzliche Müdigkeit. Viele blieben noch liegen und waren weder durch Drohungen, noch durch Kolbenstöße zum Aufstehen zu bringen. Wir zogen durch die Stadt und wieder zu unseren alten Gürtelstellungen zurück. Es dämmerte schon, als wir dort anlangten. Leider hatten sich unsere Behausungen in der kurzen Zeit unserer Abwesenheit sehr verändert. Es war, als ob Wilde hier gehaust hätten. Alles war ausgeplündert, die Fenster zerschlagen, die Türen fortgeschleppt, der Fußboden und die Umgebung der Unterkünfte waren scheußlich besudelt. Nichtsdestoweniger warfen wir uns inmitten dieses Chaos auf die Erde und schliefen sofort ein.
     Es war jedoch kaum eine Stunde vergangen, als wir plötzlich aus lern Schlafe gerüttelt wurden. Alarm! Angriff der Russen auf die Nordfront! Wir nahmen eilig Gewehre und Munition und wankten wie trunken dem Gürtel zu. Es war schon dunkel. Vom Gürtel her klang rasendes, immer mehr anschwellendes Infanteriefeuer, zu dem sich bald die dumpfe Stimme der Kanonen gesellte. Zahllose Leuchtraketen stiegen zum dunklen Himmel auf. Als wir nach mühseligem Marsche den Gürtel erreichten, war das Feuer bereits viel schwächer geworden, dann schwieg es ganz. Bald klärte sich die Sache auf. Die Arbeiterabteilungen, welche nach Abzug der Besatzung die Gürtellinie besetzt hatten, hatten offenbar eine russische Patrouille im Vorterrain gesehen und sie, wie es bei Unerfahrenen üblich war, für eine Armee gehalten. Durch die übertriebenen Alarmmeldungen entstand an einer Stelle eine wilde Schießerei, die sich wie eine Massenhysterie auf die benachbarten Bezirke ausbreitete, die überhaupt nicht wußten, warum sie schossen. Die Russen, denen die Sache jedenfalls rätselhaft war, glaubten, auch ihrerseits etwas tun zu müssen, und beschossen den Gürtel die ganze Nacht mit Artillerie. So verbrachten wir auch diese Nacht in steter Bereitschaft. Ein eisiger Wind pfiff durch die Gräben und machte den Aufenthalt zu einer wahren Tortur. Da wir über ausreichenden Kälteschutz nicht verfügten, waren viele nicht mehr imstande, mit ihren erstarrten Fingern das Gewehr zu halten. Der Wind vermengte seine klagenden Töne mit dem Geheul der Granaten, die flach über uns da« hin jagten und sich im Geäst der finsteren Wälder verloren.
     Auch diese Nacht ging zu Ende. Wir marschierten im Morgengrauen ab. Stumpfsinnig schlichen wir die Gürtelstraße entlang. Es machte uns keinen Eindruck mehr, als zwei Männer auf einer Bahre eine seltsame, zwergenhafte Leiche vorübertrugen. In der Nähe sahen wir erst, daß die Beine nur neben den Körper hingelegt waren. Bauch und Oberschenkel waren zu einem rötlichweißen Brei zermalmt. Wir bezogen wieder unsere ungastlichen Heimstätten. Wer schlafen konnte, schlief. Und die wach blieben, saßen vollkommen apathisch auf notdürftig improvisierten Bänken.
     In später Nachmittagsstunde kam der Befehl, der uns unser Schicksal verkündete: Die Festung wird morgen früh kapitulieren. Es ist alles Kriegsmaterial, das dem Feinde von Nutzen sein könnte, zu zerstören. Die Geschütze haben die Munition auszufeuern und werden um 5 Uhr morgens gesprengt. Um 6 Uhr früh werden die Werke, Magazine, Brücken und sonstige Bauten gesprengt, worauf sofort an der ganzen Front weiße Fahnen zu hissen sind. Von diesem Augenblick ist keine feindselige Handlung mehr gestattet. Die weiteren Befehle des Festungskommandos sind abzuwarten.
     Als uns diese Entscheidung verkündet wurde, waren wir wohl kaum imstande, sie in ihrer vollen Bedeutung zu erfassen. Wir befanden uns augenblicklich noch im Zustande von Greisen oder Kranken, deren einzige Sehnsucht Ruhe ist. Mechanisch verrichteten wir das Werk der Zerstörung. Es wurden Scheiterhaufen angezündet, von den Gewehren die Kolben abgeschlagen und der Rest ins Feuer geworfen. Feldstecher, Riemen, Taschen, Tornister, Karten und vieles andere ging in Flammen auf, und der scharfe, beißende Geruch des verbrannten Leders zog über das Feld. Die Munition wurde in Wassertümpel versenkt, im Walde verstreut oder in den tiefen Kot eingestampft. Der größte Teil der noch vorhandenen Pferde wurde erschossen, bei den Fuhrwerken wurden die Räder zerschlagen und das Bespannungsmaterial zerschnitten. Die Mannschaft nähte sich aus Polstern und Bettzeug Säcke zum Fortschaffen ihrer Habe.
     Allmählich wurde es Abend. Auch in dieser Nacht war uns keine Ruhe vergönnt. Denn mit Anbruch der Dunkelheit begann die gesamte Artillerie der Festung ihre Munition auszufeuern. Dies dauerte fast die ganze Nacht. Die Erde dröhnte und zitterte. Auf allen Hügeln flammte das Mündungsfeuer empor, der Frühlingssturm trieb schwere, dunkle Wolken über den nächtlichen Himmel. Gegen Morgen verstummte die Kanonade.
     Eine Stunde lang war es vollkommen still.
     Eine kleine russische Patrouille, geführt von einem blutjungen Praporschtschik, schlich sich in der Morgendämmerung vorsichtig an ein Werk der Nordfront heran, um zu erkunden, was dies alles zu bedeuten habe. Zu ihrem eigenen Erstaunen fand sie die Vorfeldstellungen leer. Behutsam tastete sie sich weiter und gelangte unbehindert bis zum Glacis, an dessen jenseitigem Rande die Mauern und Wälle des Forts drohend aufragten. Doch das mächtige Werk schien ausgestorben zu sein. Schon wollte die Patrouille noch näher heranrücken. Da wälzten sich plötzlich schwere dunkle Rauchwolken aus dem Gemäuer. Die gewaltigen Wände klafften bis in die Grundmauern und eine schwarze Rauchsäule schoß lotrecht hoch empor, genährt von immer noch nach« quellenden Rauchmassen. Die Erde bebte, aus der Luft hagelten Sprengstücke nieder und aus den Trümmern züngelten kleine Flammen empor. Bestürzt ergriff die Patrouille die Flucht und barg sich in einem verlassenen Schützengraben. Und ebenso sahen wir auf allen benachbarten Hügeln und an vielen Stellen der inneren Stadt die dunklen Rauchsäulen aufsteigen und wie riesenhafte, gespenstische Bäume lange an derselben Stelle verweilen, bis der Wind die Wimpfel allmählich auflöste und ins Weite entführte. An weithin sichtbaren Stellen der Front flatterten kleine weiße Fähnchen. Ein Automobil mit weißer Fahne verließ das Westtor und eilte in rascher Fahrt den russischen Stellungen zu. Es war zu Ende.
      Man schrieb den 22. März 1915, den zweiten Tag des Frühlings. Der nächtliche Sturm hatte die Wolken verscheucht und zum erstenmal wieder schien die Sonne warm und freundlich auf das Gelände, in dem wir acht Monate lang nur Schweres und Trauriges erlebt hatten.
     Als erster Russe erschien der junge Praporschtschik mit seiner Patrouille. Unser Oberst bedeutete ihm streng, daß die formelle Übers gäbe noch nicht stattgefunden habe, worauf er sich entschuldigte, stramm kehrt machte und abzog. Zwei Stunden später erschienen auf der Gürtelstraße die ersten erdfarbenen Uniformen in endlosem Zu Ulanen, Kosaken, Artillerie. Die Russen benahmen sich höchst korrekt geradezu chevaleresk. Den Offizieren wurden die Waffen belassen. Die Mannschaft befreundete sich rasch***).
     Am nächsten Tage wurden wir in kleine Abteilungen geteilt u marschierten zu der einige Wegstunden entfernten Bahnstation. Hier mußten die Offiziere Abschied nehmen von ihrer Mannschaft, die ohne Waffen, bloß mit einem Bettelsack beladen, ihrem schweren Los entgegenging. Es war nur ein Übergang zu neuen Leiden und Entbehrungen und vielen Tausenden, die damals die Fahrt nach Sibirien oder Turkestan antraten, war es bestimmt, die Heimat nicht wiederzusehen.
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*)Nach "Österreich-Ungarns letzter Krieg 1914-18" Heft 3, waren beim Ausfall vom 15. bis 19. Dezember in Verwendung insgesamt     24 Bataillone, 3 1/2 Eskadronen und 15 Feldbatterien. Die Verluste betrugen rund 1000 Mann an Toten und Verwundeten. Die Russen meldeten auch Gefangene.

 

**) Am 31. Dezember 1914 betrug der Verpflegsstand der Festung 127 811 Mann, 14.546 Pferde (7000 bereits geschlachtet),          18.000 Zivilpersonen, 1008 Kriegsgefangene. Der Gefechtsstand betrug 83.747 Mann, hiervon 50.958 Infanterie, die sich aus 14.767 Mann der ersten Linie und 36.191 Landsturm zusammensetzten. In den Spitälern lagen ungefähr 20.00 Mann an Kranken und Verwundeten, die zum überwiegenden Teil von den Feldarmeen zurückgeblieben waren.

 

***) Durch die Übergabe der Festung gerieten in Kriegsgefangenschaft: 9 Generäle, 93 Stabsoffiziere, 2500 Oberoffiziere und Militärbeamte, 117.000 Mann.

 
 

 
 

 

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